Ehem. Thurn und Taxis’sche Post / Kerzenfabrik Sels

Geschichte

Weit Ende des 16. Jahrhunderts war die Beförderung von Post und die Gründung von Posteinrichtungen ein kaiserliches Privileg. Es war dem Haus Thurn und Taxis als Lehen übertragen worden. In Neuss kam es 1653 zur Einrichtung der ersten kaiserlichen Postdienststelle. Der Posthalter führte seine Dienstgeschäfte von seinem Wohnhaus aus. Anfang des 18. Jahrhunderts gab es in Neuss ein Postlokal im Zunfthaus, in der Nähe des Marktes.

1778 entstand als Dienstsitz und kaiserliches Postamt nahe dem Obertor das Haus Oberstraße 15. Der Neusser Posthalter P. J. Nepes nutzte das Haus zusammen mit seiner Ehefrau E. Leven und der Familie auch als stattliches Wohngebäude. Es musste die Räume der Dienstgeschäfte mit Repräsentation und familiengerechter Wohnlichkeit in Erscheinungsbild, Größe und Raumdisposition vereinen.

Straßenansicht der ehem. Thurn & Taxischen Post in Neuss. Foto: Helmut Friedrichs, 2021

Den Entwurf lieferte der Architekt Michael Leydel. Leydel hatte auch in Krefeld die Posthalterei errichtet. Von den Häusern des gehobenen bürgerlichen Mittelstandes unterschied sich die kaiserliche Post durch eine sieben-, statt gewöhnlich fünfachsigen Ausbildung des Haupthauses, das zusätzliche Nutzfläche durch ein drittes Geschoss erhielt. Die drei Mittelachsen des Hauses springen als Risalit leicht aus der Flucht der Straßenfassade vor. Besonders hohe Fenster mit vorgestellten Schmuckgittern im Brüstungsbereich belichten das mittlere Hauptgeschoss, das somit als bel etage oder piano nobile hervorgehoben wird. Im Brüstungsgitter über den Eingangsportal befinden sich die Initialen von Peter Josef Nepes und seiner Frau Maria Elisabeth Levens. Unter den kleinen Fenstern des dritten Geschosses sind in den Brüstungsfeldern Reliefs mit Festons eingelassen. Das vorspringende, schön profilierte Traufgesims unter dem Walmdach nimmt die Horizontalgliederung durch Sockel und Stockwerksgesims auf.

Die Baumassengliederung der Gesamtanlage wird durch eingeschossige, rechts und links an den Hauptbau anschließende Flügelbauten geprägt. Sie verweisen auf die Erdgeschossnutzung für Amtsräume und für den Kundenverkehr. Über den Fenstern des nördlichen Flügels wiederholen sich die Festons des Hauptbaus.

Alle Fenster und die mittig im Hauptbau sitzende Hauseingangstür sich mit breiten, leicht aus der Fassade vorspringenden, breiten Faschen umrahmt. In den Festerumrahmungen markieren wulstförmig vorspringende Fensterbänke das untere Ende der Fensteröffnungen.

Hinter der doppelflügligen Haustür leitet ein kleiner Flur über zu einem an der Hausrückseite gelegenen zentralen Treppenhaus mit oktogonalem Grundriss. Eine geradläufige Treppe setzt den Eingangsflur fort und führt ins Obergeschoss. Hier ist der zentrale Raum hervorgehoben durch eine farbig gefasste Putzdecke. In einer Raumecke befindet sich ein reich ornamentierter, bauzeitlicher Keramikkamin.

Sechzig Jahre diente das Haus bis 1838 seiner Bestimmung als Poststelle. Mitte des 19. Jahrhunderts übernahm die Familie Sels das Anwesen und betrieb mit einer Konzession von 1851 dort unter Erneuerung der rückwärtigen Remisen und unter Nutzung einer 6 PS Dampfmaschine (Konzession 1853) eine Kerzenfabrik.

Overbeck & Sohn. Annonce mit Schaubild um 1910. Stadtarchiv Neuss

1905 übernahm die Dortmunder Firma Overbeck diese Kerzenfabrik, deren Grundstück Anschluss an Erftkanal und dem damit verbundenen, 1904-08 entstehenden Hafenbecken 1 hatte. Ein Schaubild auf einer Werbeanzeige verdeutlicht die mit Overbeck & Sohn sich entwickelnde Größe der Werksanlage. Die von Peter Josef Nepes erbaute Poststelle ist hier oben links nur noch ein Randgebäude. Davor erhebt sich ein 1908 für die Kerzenfabrik erbautes Lagergebäude. Die erhaltenen Baupläne sind signiert von dem Architekten W. Linse und der Dortmunder Baufirma Franz Schlüter.

Lagerhaus der Stearinkerzenfabrik Overbeck & Sohn. Foto: Helmut Friedrichs, 2021

Das Lagerhaus ist ein Stahlbetonskelettbau mit zwei Stützenreihen im Inneren. Zwischen Stützen und Unterzügen vermitteln wie bei der weitverbreiteten, für den Belgier Francois Hennebique 1892 patentierten Bauweise Vouten. Statt Längsunterzüge verbinden aber kappenartig gemauerte Backsteingewölbe die Unterzüge. Die Außenwände sind traditionell in Backstein gemauert mit einer Gliederung aus geputzten Wandfeldern und leicht vorspringenden steinsichtigen Lisenen.

Die restlichen Werksgebäude der Kerzenfabrik Sels / Overbeck gingen durch eine flächenhafte Sanierungsmaßnahme, der auch die Ölfabrik Kallen und die Mühlen vor dem Obertor zum Opfer fielen. Dabei hätte die Fabrik einen wichtigen Aspekt der Neusser Industrie- und Stadtgeschichte verdeutlichen können.

Kerzen waren lange Zeit ein Luxusprodukt. Als Rohprodukte wurden die über den Schiffsweg gelieferte, aus Palmöl gewonnenen Stearin-Masse und Talg verwendet. Stearin kam von der westafrikanischen Küst, Talg wurde aus Australien, Südamerika und Kalifornien bezogen. Die Stearin-Kerzen wurden auf Maschinen hergestellt, die 100-200 verschieden Formen und 1000-2000 Kerzen täglich herstellen konnten. Die Firma Overbeck gegründet in den 1840er Jahren in Dortmund, war eine der ersten Stearinkerzenfabriken Deutschlands und konnte den Bezug von Stearin und Talk in Neuss wesentlich leichter organisieren als in Dortmund.

Das Lagergebäude von 1908 bietet eine letzte Reminiszenz an die Mühlen- und Industriebetriebe am Obertor. Es verdeutlicht auch eine wichtige Rationalisierungstendenz in der Industrie als mit solchen Lagergebäuden zentrale Stellen zum Bezug und zur Lagerung eingehender Materialien entstanden. Die wichtigsten Vergleichsbeispiele sind die Lagerbauten der Gutehoffnungshütte von Peter Behrens in Oberhausen, im Bayerwerk Leverkusen oder in der Maschinen- und Eisenbahnwagenfabrik Van der Zypen und Charlier in Köln. In allen Fällen spielen hier Betonkonstruktionen zur Bewältigung hoher Lasten eine große Rolle.

Statt des Gewerbeviertels am Obertor entstand durch die Sanierung der 1960er Jahre hier eine belanglose Neubebauung aus der die Turn & Taxis’sche Poststelle und das Lagerhaus hervorragen. Beide Gebäude wurden durch einen Glasgang verbunden und beherbergen seit 1967 das Neusser Stadtarchiv. Erwähnenswert in der direkten Nachbarschaft sind das Haus Oberstraße 17-19, ebenfalls durch den Posthalter Peter Josef Nepes als Doppelwohnhaus durch den Architekten Kaspar Hermkes 1787 errichtet. Es wurde leider bis auf Fassade und Keller entkernt und für eine städtische Dienststelle umgebaut.

Literatur

  • Bömmels, Nicolaus: Wirtschaftsleben in Neuß von den Anfängen bis 1794. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Industrie- und Handelskammer zu Neuss 1861-1961, Neuss 1961
  • Kallen, Hermann-Josef: Die Neußer Industrien und ihre Unternehmer von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des ersten Weltkriegs, Diss Tübingen, 1973
  • Metzdorf, Jens: Die Straßen von Neuss, Neuss 2019 (2. Auflage)
  • Müller, Klaus: Rheinischer Städteatlas. Neuss, Köln 2010
  • Lohkamp, Stefan: Die Entwicklung der Neusser Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (=IHK Schriftenreihe 69/2001 und Schriftenreihe des Stadtarchivs Neuss Bd. 18), o. J. o. O. Neuss 2001
  • Urban, Caroline: Neuss am Rhein ( Rheinische Kunststätten 499), Köln 2008
  • Wirtschaftlicher Heimatführer und Lehreradressbuch für die Rheinprovinz (Geschäftsführender Ausschuss des Rheinischen Provinzial-Lehrerverbandes Hg.), Düsseldorf o. J. (1917)

Karte

Oberstraße 15
41460 Neuss